Malerei stiftet Raum

by Kristin Schmidt

„Die Malerei ist die Kunst des Sichtbaren. Vom Standpunkt des Malers aus ist Malerei die Kunst des Sichtbarmachens von etwas, das durch ihn sichtbar wird und vordem nicht vorhanden war, dem Unbekannten angehörte.“ Willi Baumeister[1]

Jedes Bild Arnaldo Ricciardis ist aus dem Inneren heraus erzeugt. Statt über die Bildräume hinaus zu spekulieren, arbeitet der Künstler an der sinnlichen Gegenwart eines jeden Bildes, ohne anekdotisches Beiwerk und Beliebigkeit. Er widmet sich ganz der Kraft von Farbe und Fläche in ihrer ruhigen, konzentrierten Form, ihrer unaufgeregten Präsenz: Der Farbkanon ist zugleich sparsam und spannungsvoll, so wie die Komposition seiner Gemälde. Meist legt er helle, weiss- oder grau getönte Flächen über dunkle. Damit öffnet er seine Werke: Der Raum wölbt sich nach vorn, er leuchtet. Die dahinter liegenden dunkleren Ebenen verankern die helle Fläche im Grund. Sie führen in die Tiefe des Bildraumes zurück. Auch leuchtendes Rot oder Blau finden ihren Platz. Werden diese Farben als letzte Schicht aufgetragen, intensivieren sie den Ausdruck der Bilder. Aber auch kleinere gelbe oder grüne Partien sorgen für eindrucksvolle Kontraste in der ansonsten gemässigten Palette. Wenn sie aus der Tiefe hervor dringen, bringen sie die raumstiftenden Energien der Farbe zur Geltung.

Der Raum selbst entsteht durch die Organisation der Farbe im Format. Ricciardi arbeitet mit Pinsel und Spachtel, er trägt Farbmaterial auf, entfernt es wieder, setzt neue Schichten darüber. Jedoch gerät der Duktus nie zum Selbstzweck, immer fügt sich die Farbe zu einer Form mit belebter Binnenfläche und offenen Konturen. Die Form wiederum korrespondiert mit dem Rechteck der Leinwand als kompositorischer Ausgangslage. Die in ihren Grundzügen daher geometrische Form nähert sich den Bildrändern an, verläuft fast parallel, entfernt sich mal mehr, mal weniger stark.

Ricciardi balanciert seine Gemälde zwischen Ordnung und Spannung aus. Dynamik entsteht, wenn die bewegte Kontur leicht vom rechten Winkel abweicht, die gedachte Vertikale verlassen wird oder die oberste Fläche über eine Seite des Bildrandes hinausreicht. Immer wieder sind Balken, Streifen, freigelegte oder freigelassene Stellen darunter liegender Farbschichten zu sehen. Die Bilder tragen alle Stufen ihres Aufbaus in sich und geben doch nicht jede Stufe preis, denn der Künstler deckt seine Bilder mit jedem Arbeitsschritt weiter zu. Er legt Schicht über Schicht, Fläche über Fläche. Die oberste Farbfläche ist schliesslich die Summe aller darunterliegenden Farbschichten. Jedes Bild ist in hohem Masse verdichtet. Seine Farbmasse bildet in der zentralen Fläche einen blockhaften Körper. Frei von illusionistischen Bildräumen oder narrativen Details wird das Bild als Ganzes zu einem dinglichen Gegenüber, so wie es der belgische Kunsttheoretiker Thierry de Duve benennt: „In der besten abstrakten Malerei steht die Bildfläche mir gegenüber wie ein Gesicht, wie der Andere, der sich an mich wendet: weil sich der Maler zuvor an sein Bild gewendet hat. Genauer, der Maler wendet sich, wenn er malt an die Malerei“[2]. In Ricciardis Gemälden ist der Prozess der Raumklärung ebenso Bildinhalt wie das Verhältnis von Farbmaterie und Farbton, von Kontrast und Harmonie, von grundsätzlichen malerischen Fragen also. Diese werden jedoch nicht didaktisch vorgeführt, sondern künstlerisch erfahren. So reflektieren die Bilder Ricciardis die Malerei und sind zugleich im Malakt gefundene sinnliche Form.

Kristin Schmidt


[1] Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst, 1947, S. 180, zitiert nach: Laszlo Glozer, Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Köln 1981. [2] Ein Jahrhundert Malerei der Gegenwart. Ein Gespräch zwischen Bernhard Mendes Bürgi und Thierry de Duve, S. 21, in: Painting on the Move, Ausst.-Kat., Basel 2002

Katalog Arnaldo Ricciardi, 2014