Kopfreisen und Kantonsausblicke

by Kristin Schmidt

Im Kulturraum des Kantons ist die Ausstellung „Bellevue GTA 1849 – 2070“ zu sehen. Sie lässt das ehemalige Reliefzimmer des Kantons auferstehen und schafft intelligente Bezüge zur heutigen Computerspielewelt.

Hinter der Doppeltüre ein kurzer, breiter Gang und dann öffnet sich gross und weit der Kulturraum am Klosterplatz. Eigentlich. In der aktuellen Ausstellung ist das Raumerlebnis ein völlig anderes: Anastasia Katsidis und Rolf Graf haben eine Zeitschleuse gebaut. Der Gang ist schmaler, länger und führt nach einer Kehrtwendung in einen kleineren Raum und zugleich hinaus ins Freie: Ein temporär eingebautes Zimmer zeigt virtuelle Ausblicke aus dem Kanton St.Gallen. Sie sind mehr als 150 Jahre alt und stammen vom Innerschweizer Maler David Alois Schmid. Die Veduten waren Bestandteil des Reliefzimmers des Regierungsgebäudes. Die Kantonsregierung hatte es Mitte des 19. Jahrhunderts in Auftrag gegeben, um die Schönheit des Kantons zu feiern und Gästen in kompakter Form zu präsentieren. Damit ist das Zimmer ein direkter Vorläufer heutiger Multimediaschauen. Und es bot sogar eine dreidimensionale Attraktion, denn in der Raummitte war ein Relief des Kantons St.Gallen zu sehen, modelliert von Carl August Schöll, dem führenden Geoplastiker seiner Zeit. Bis an die Weltausstellung 1855 in Paris wurde es transportiert, aber 1972 dann doch zerstört – es entsprach den damaligen Bedürfnissen nicht mehr.

Und der Freskenzyklus? Schon 1920 war er übermalt worden. Als man ihn vierzig Jahre später wiederentdeckte, wurden die Landschaftsbilder zerteilt und restauriert. Vor drei Jahren schliesslich folgte eine zweite Restaurierung dessen, was noch erhalten ist. So gibt es von der Wanddekoration nur noch Fragmente. Aber das tut den Landschaftsbildern keinen Abbruch, im Gegenteil. Die beiden Kunstschaffenden verzichten in ihrer Rekonstruktion des historischen Raumes darauf, einen bunten Abklatsch des einst Vorhandenen zu schaffen. Statt dessen sorgen die unbehandelten Hartfaserplatten der Wände und die schwarzweissen Reproduktionen von Fotografien nicht erhaltener Wandteile für einen deutlichen Kontrast zu den Malereien. Deren zarte, teilweise verblichene Farben kommen vor dem reduzierten Hintergrund erst recht zur Geltung. Wie Fenster öffnen sie sich hinaus in die Bündner Herrschaft, Richtung Walensee und Glarner Alpen oder zum Alpstein hin.

Die Augen gehen auf Reisen, das Hirn reist mit. Dies war das Ziel der Fresken Schmids und dies funktioniert ebenso im anschliessenden Raum der Ausstellung. Hier projiziert Rolf Graf Videomitschnitte von Computerspielsequenzen auf die grossen Wände. Es sind Spiele ganz unterschiedlichen Inhalts von der Welteroberung oder dem Weltentwurf über die Fahrt im Führerstand einer Lok bis hin zu einer experimentellen Geschichte. Auch in ihrer Grafik unterscheiden sich die Spiele sehr. Es gibt die üblichen 3D-Simulationen, aber auch ein Spiel mit reduzierter Scherenschnittästhetik und beinahe völligem Verzicht auf Farbe. Rolf Graf schlägt mit dieser Installation eine Brücke zu den illusionistischen Techniken der Vergangenheit. In der Gegenüberstellung zeigt sich, dass die Welt der Vorstellung nicht davon abhängt, dass der reale Raum so gut wie technisch möglich imitiert wird. Im Gegenteil, sie braucht Freiraum. So wie in David Alois Schmids Bildern: Zwei Drittel der Bildfläche sind von Himmel bedeckt.

Aber auch im realen Stadtraum finden sich noch Stellen, die sich dem direkten Erleben entziehen und stattdessen Platz für die Vorstellungskraft bieten. Anastasia Katsidis beleuchtet das Dach des Staatsarchivs mit grellweissen Blitzen. Die markante Architektur ist nicht zugänglich und wird nun zur Bühne für ein imaginäres Geschehen. Die Kopfreisen beginnen von Neuem.