Kinnhaken und Kunst

by Kristin Schmidt

Die Rotes Velo Tanzkompanie präsentiert das aktuelle Stück von Exequiel Barreras: „Uppercut“ thematisiert Kampf und Leiden genauso wie Stärke und Schönheit.

Frauen kämpfen gegeneinander, der Preis für die Siegerin ist ein Bräutigam. Was nach einem fragwürdigen Fernsehformat klingt, ist ursprünglich ein Schauspiel des Argentiniers Daniel Veronese. Die St.Galler Rotes Velo Tanzkompagnie hat daraus ein vielschichtiges Tanzstück entwickelt und spielt darin durchaus auch aufs Reality-TV an. Gleichzeitig stecken aber viele, grosse Themen in der Vorlage. Sie werden ebenso intelligent wie kritisch auf der Bühne der Grabenhalle verhandelt.

Der Raum ist in eine Boxarena verwandelt, mit einer weissen quadratischen Kampfzone in der Mitte. Das Publikum sitzt auf allen vier Seiten. So sind die Tanzenden eingekesselt, kein Entrinnen ist möglich. Und es geht um nichts weniger als um Sieg oder Niederlage. Gegensätze dominieren die Szene: Licht und Dunkel, Schwarz und Weiss, Freiheit und Gefangensein. Der Wahl der Mittel sind dabei keine Grenzen gesetzt. Die Tänzerinnen und Tänzer – alle Mitglieder der Tanzkompanie am Theater St. Gallen – gehen aufs Ganze. Yannick Badier, Zaida Ballesteros, Hella Immler, Emma Skyllbäck, Tobias Spori zeigen radikal und schonungslos, wozu der Mensch fähig ist, wohin er sich treiben lässt und was er sich selbst antut. Immer wieder finden sie starke und ungewohnte Bilder. Wenn sich etwa jede der drei Tänzerinnen ihren eigenen Hieben aussetzt, so ist das mehr als nur eine Metapher für das Geschlagenwerden, sondern auch dafür, wie brutal und zerstörerisch der selbstgewählte Medienexhibitionismus für ein Individuum sein kann.

Indem die Requisiten auf ein Minimum reduziert werden, wird das Potential eines jeden einzelnen Elementes stärker herausgearbeitet. Ein Seil wird zur Fessel, zum Lasso, zur Prothese, zum Netz, zum Springseil, es wird in Beziehung gesetzt zu Korsageschnüren und Feinstrumpfhosen. Beeindruckend, mit welcher körperlichen Intensität und Perfektion die Tanzenden arbeiten, wie sie zusätzlich singen, rezitieren, wie selbstverständlich dabei der eingespielte Ton (Musikdesign: Pablo Carosio) und die selbst artikulierten Passagen ineinander übergehen. Diese fünf beeindrucken in allen Sparten und selbst unter extremen Bedingungen. Etwa Hella Immler, gemeinsam mit Barreras Mitbegründerin der Kompanie: Gefesselt, mal am Haken meterhoch über dem Boden hängend, mal auf einem Bein, das andere hochgeschnürt, übersetzt sie Hingabe, Ausgeliefertsein, Abneigung, Stärke in drastische, stets souverän ausgeführte Bewegungen.

Emma Skyllbäck wiederum gibt, von Kopf bis Fuss in Feinstrumpfhosen eingehüllt, überzeugend die Frau im Zentrum unterschiedlichster Ansprüche und Schikanen. Idee und Ausdruck führen den engagierten Diskurs weiter, den Performancekünstlerinnen in emanzipatorischem Sinne angestossen haben.

Die Rotes Velo Tanzkompanie hinterfragt Rollenbilder und Verhaltensmuster, visualisiert Überlebensstrategien und Konkurrenzgebahren. Das alles ist choreographisch und tänzerisch höchst durchgestaltet. Auch die Kostüme (Exequiel Barreras und Emilio Diaz Abregu) und das Lichtdesign (ebenfalls Abregu) sind Teil eines stimmigen Gesamtwerkes.