Alexandra Maurer – ausgeleuchtet

by Kristin Schmidt

Einführung zur Ausstellung im Architekturforum Ostschweiz im Lagerhaus St. Gallen

Grauen und Grube und Garn über dich, Bewohner der Erde! Wer flieht vor dem Tode des Grauens, der fällt in die Grube, und wer aus der Grube emporsteigt, der fängt sich im Garn; denn die Fenster droben sind aufgetan, und die Grundfesten der Erde erbeben. Es zerbricht, zerbirst die Erde, es zerspringt, zersplittert die Erde, es wankt und schwankt die Erde. Hin und her taumelt die Erde wie ein Trunkener und schaukelt wie ein Hängebette. Schwer lastet auf ihr ihre Missetat, dass sie fällt und nie wieder aufsteht.

Jesaja 24, 17 – 20

Die Erde bebt. Alles geht unter und der Mensch mittendrin. Es trifft alle Geschöpfe, die Schuld auf sich geladen haben. Das Erdbeben als göttliche Strafe. Doch wie passte das Erdbeben in Lissabon in dieses Bild?

Am 1. November 1755 zerstörte ein Erdbeben die portugiesische Hauptstadt fast vollständig. Es erreichte eine geschätzte Stärke von etwa 8,5 bis 9 auf der Richterskala und gilt als eine der verheerendsten Naturkatastrophen in der europäischen Geschichte. Das Erdbeben riss meterbreite Spalten in den Boden. Schwere Brände breiteten sich aus. Das Meer wich erst zurück, so dass auf dem Hafenboden Schiffswracks und verlorene Waren freigelegt wurden. Kurz darauf überrollten meterhohe Flutwellen den Hafen und schossen den Tejo flussaufwärts. Die Tsunamis löschten zwar die Feuer, rissen aber durch ihre Wucht die noch stehenden Gebäude mit sich. Das Erdbeben zerstörte auch fast alle Kirchenbauten in Lissabon; nicht jedoch das Rotlichtviertel, die Alfama.

Die Katastrophe erschütterte den damals vorherrschenden «Aufklärungsoptimismus», denn wie konnte ein allmächtiger und gütiger Gott ein so gewaltiges Unglück zulassen? Und warum passierte es am Festtag Allerheiligen? Warum zerstörte es die christlichen Stätten, das Rotlichtviertel jedoch blieb verschont? Das Erdbeben löste nachhaltige philosophische Debatten aus. Briefe und Schriften zu diesem Unglück gingen durch die Welt, und auch Bilderfolgen verbreiteten sich weit und rasch.

Damals kursierten nach allen grossen dramatischen Ereignissen Flugblätter, etwa nach dem Ausbruch des Vesuv 1631 oder dem grossen Brand von London 1666. So auch von Lissabon. Gemeinsam ist all diesen Katastrophenbildern: Stets wird die Zerstörung dargestellt und wenn überhaupt sind kleine Figuren zu sehen, die das Ereignis beklagen. Das Hauptaugenmerk gilt also den Einzelobjekten. Detailgetreu oder malerisch werden die ruinierten Gebäude gezeigt, die schönen Trümmer.

Erstaunlicherweise gibt es diese Tendenz bis in die heutige Zeit, so beispielsweise in den Fotografien des Japaners Ryuji Miyamoto: Seine Aufnahmen des durch ein schweres Erdbeben zerstörten Kobe waren auf der Documenta 11 in Kassel zu sehen. Die hochästhetischen Schwarzweissaufnahmen wurden beispielsweise in der taz als »wunderbar« bezeichnet, weiter war zu lesen: »Die Atmosphäre auf den Fotografien ist fein, kühl, fast sachlich. Aus Hochhäusern herausgebrochene Platten, zusammengepresste Reklametafeln, regelmäßig zerknitterte Jalousien und herabgefallene Stahlträger lassen eine andere Stadt hinter der Stadt sichtbar werden.« Die Berliner Zeitung schrieb gar von »dekorativer Beschaulichkeit«.

Ob Kupferstiche oder fotografische Aufnahmen – die Bilder thematisieren die Ästhetik, die der Naturkatastrophe folgt. Doch wie lässt sich die eigentliche zerstörerische Kraft fassen? Wie kann ihre Wirkung auf den Menschen selbst angemessen künstlerisch umgesetzt werden?

Alexandra Maurer stellt die Menschen ins Zentrum ihrer Arbeit. In St.Gallen waren ihre Arbeiten unter anderem in der Galerie Paul Hafner zu sehen und anlässlich der Verleihung des MANOR-Kunstpreises im Kunstmuseum St.Gallen: Die Künstlerin visualisiert mit kraftvollen Bildern intensive Körpererlebnisse. Immer wieder konzentriert sie sich auf physische Extremsituationen. Sie zeigt Menschen in Bedrängnis, unter Gewalteinwirkung oder während Höchstanstrengungen. Und sie zeigt sie nicht nur. Sie arbeitet mit einer Bildsprache, die diesen Erfahrungen, ihrer Drastik, ihrer Unmittelbarkeit und ihrer Unerbittlichkeit entspricht. Gleiches gilt für den Sound, für den die Künstlerin mit dem kolumbianischen Komponisten Daniel Zea zusammenarbeitet.

Maurer wechselt Rhythmen und Geschwindigkeiten und setzt Brüche in den Bilderfluss. Sie fügt Bildmaterial unterschiedlicher Provenienz zusammen: Da gibt es dokumentarisches Material, von der Künstlerin selbst aufgenommene Sequenzen und dann die übermalten Stills. Sie sind ein besonders markantes Stilmittel Alexandra Maurers: Sie projiziert ausgewählte Standbilder auf Papier und hebt mit Malerei jene Elemente hervor, die sie besonders interessieren. Diese gemalten Bilder werden mal mit oder mal ohne Projektion im Hintergrund erneut abfotografiert, wieder zu einer Sequenz zusammengeführt und mit den andren filmischen Sequenzen verbunden. Die heterogenen Elemente vermischen sich in einer durchchoreografierten Komposition.

Für die grosse Videoinstallation in der Ausstellung »ausgeleuchtet« heisst das: Alexandra Maurer fügt selbst gefilmte Innenauaufnahmen, Amateurvideos, Sequenzen aus Mark Robsons Spielfilm »Earthquake« (1974) und malerisch überarbeitete Bilder und Videos der eigenen Aufnahmen zusammen. Gemeinsam ist ihnen das Thema »Erdbeben«.

Schon in ihren früheren filmischen Aufnahmen arbeitete Alexandra Maurer mit professionellen Tänzerinnen und Tänzern zusammen. Und so ist es auch jetzt: Nach Anweisung der Künstlerin führen zwei Tänzerinnen und ein Tänzer die körperlich anspruchsvollen Aktionen und Bewegungen aus. Sie bat die drei in den Erdbebensimulator des erdwissenschaftlichen Forschungs- und Informationszentrums Focus Terra der ETH Zürich. Dort ist es möglich, die Erschütterungen konkreter Erdbeben zu simulieren. Alexandra Maurer wählte das Beben von Chichi in Taiwan 1999. Es war ein ausgesprochen heftiges Erdbeben mit sehr plötzlichem, raschem Beginn. Die Tänzerinnen und der Tänzer sind mit den starken, von aussen kommenden Bewegungen konfrontiert. Sie müssen auf die Einwirkungen reagieren, sie versuchen sich mitzubewegen, doch je länger das Beben im Simulator dauert, desto weniger gelingt es ihnen. Sie verlieren sich, verlieren die Kontrolle über ihren Körper. Teilweise sind die Aufnahmen der Überwachungskamera zu sehen, teilweise sind mit einer am Körper befestigten Kamera entstanden. So sind die Dynamik der Tänzer und deren Ausgeliefertsein gegenüber den körperexternen Bewegungen noch intensiver nacherlebbar. Gesteigert wird die Intensität ausserdem durch die Übermalungen. Die leuchtenden Töne, die fliessende Farbe nimmt den Bildern einmal mehr ihren Halt. Alles rutscht, gleitet, löst sich auf.

Unterbrochen werden die intensiven Bilder von Filmen, die Betroffene in Katastrophengebieten mit ihren Amateurkameras aufgenommen haben. Die Aufnahmen der Gebäude, der fallenden Teile, der stürzenden Menschen sind verschwommen, verwackelt und entsprechen in ihrer Ästhetik der Gesamtsituation, da sie nicht nur Abbild dieser sind, sondern Teil derselben.

Florian Dombois, Künstler, Geophysiker und seit 2012 Leiter des Forschungsschwerpunktes Transdisziplinarität an der ZHdK, fragte in seiner Dissertation nach dem Verhältnis zwischen der Form der Darstellung und dem Inhalt »Erdbeben« und schlägt die Transponierung der Erdbewegung in das Akustische vor, statt sich auf das Visuelle zu fixieren. Erdbeben lassen sich ihm zufolge mit dem menschlichen Gehör sehr viel schneller und genauer erfassen. Hier setzt auch Alexandra Maurer an. Sie fixiert sich ebenfalls nicht auf das Visuelle, sondern schafft vielmehr vier Ebenen: Die visuelle, die akustische, die körperliche und die räumliche. Akustisch arbeitet sie mit so tiefen Bässen, dass sie körperlich spürbar sind.

Sie hatte dies bereits in der Performance Tremblements (Vorstufe II) vorbereit: Bei der vorletzten Ausstellung der Kunsthallen Toggenburg auf der Alp Sellamatt wurde in einem Stall ein Erdbeben durch tiefe Bässe simuliert. Tänzer nahmen die akustischen, physisch erlebten Impulse auf und interpretieren das künstlich ausgelöste Erdbeben.

Hier nun ist der Rahmen ein anderer und auch hier arbeitet Maurer souverän mit der Gesamtsituation. Statt einer offenen, einladenden Eingangssitutation neigt sich eine Wand den Eintretenden entgegen. Die Projektion erfolgt auf eine weitere schräg gestellte Wand. Gerahmte Bilder hängen nicht, sondern stehen angelehnt an Wand und Pfeiler. Die Linien kippen, es gibt auch hier keinen Halt.

»Erdbeben« wird ergänzt durch weitere Arbeiten wie die grosse, gleichnamige Malereinstallation. Entstanden ist sie während des letztjährigen Atelieraufenthaltes der Künstlerin im Rahmen des Landis und Gyr-Kulturstipendiums in Berlin. Maurer bringt hier erneut die körperliche und die räumliche Ebene zusammen, wobei der Raum selbst wiederum in viele Ebenen gegliedert ist. Menschen sind zu sehen, doch niemals ganz. Sie sind fragmentiert, sind gefangen in architektonisch anmutenden Strukturen. Sie leuchten auf zwischen schwarzen Balken oder Rohren. Die Menschen hängen dazwischen, stemmen sich dagegen und wirken dennoch ausgeliefert. Die Strukturen überschneiden sämtliche Blätter. Sie ziehen sich über die gesamte Breite und Höhe des zusammengesetzten Bildes. Maurer arbeitet hier mit einem erweiterbaren Modulsystem, das jedoch nicht beliebig daherkommt, sondern auf einen Höhepunkt hin choreographiert ist und danach von einer abfallenden Linie geprägt wird. Durch die Dimension der Wandarbeit ist der Mensch Teil des ganzen, selbst, wenn er vor der Wand steht.

Statt Erdbeben oder vielmehr ihre Ergebnisse zu illustrieren, gelingt es Alexandra Maurer, ihren Verlauf, ihre direkten Auswirkungen nicht nur auf die Gebäude, sondern auf den Menschen selbst zu erfassen.