Weisses Rauschen – Aus der Eisfabrik

by Kristin Schmidt

Vernissagerede zur Ausstellung von Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner im Kunstraum Engländerbau, Vaduz

 „Statt der Sonne jedoch gab es Schnee, Schnee in Massen, so kolossal viel Schnee, wie Hans Castorp in seinem Leben noch nicht gesehen. Der vorige Winter hatte in dieser Richtung wahrhaftig nichts fehlen lassen, doch waren seine Leistungen schwächlich gewesen im Vergleich mit denen des diesjährigen. Sie waren monströs und maßlos, erfüllten das Gemüt mit dem Bewusstsein der Abenteuerlichkeit und Exzentrizität dieser Sphäre. Es schneite Tag für Tag und die Nächte hindurch, dünn oder in dichtem Gestöber, aber es schneite. Die wenigen gangbar gehaltenen Wege erschienen hohlwegartig, mit übermannshohen Schneewänden zu beiden Seiten, alabasternen Tafelflächen, die in ihrem körnig kristallischen Geflimmer angenehm zu sehen waren […] Und auf die liegenden Massen schneite es weiter, tagaus, tagein, still niedersinkend.“*

In diesem Raum lässt sich die beschriebene Schneewelt trefflich vorstellen. Ein weisser Ausstellungsraum, der perfekte White Cube, ohne Fenster, mit weisser Tür, weissen Wänden und weisser Decke, sogar der Boden ist weiss. Und selbst die Kunst. Weisse Objekte, weisse Flächen, weisse Wesen, Formen und Gebilde. Stefan Rohner und Mirjam Kradolfer haben ein „weisses Rauschen“ inszeniert.

Der Begriff lässt sich zunächst ganz wörtlich nehmen: Das weisse Rauschen als das Gewirbel der Schneeflocken, das jede Sicht verschleiert, kein klares Bild ermöglicht, etwa so wie das grauweisse Flimmern auf dem Fernsehbildschirm zur Sendepause – ja, so etwas gab es früher. Das weisse Rauschen also als Abbild des Schneetreibens. Als Inbegriff des konturlosen Weiss, dass sich ergibt, wenn über der ohnehin verschneiten Welt ein Flockenwirbel niedergeht:

„… Draußen war das trübe Nichts, die Welt in grauweißer Watte, die gegen die Scheiben drängte, in Schneequalm und Nebeldunst dicht verpackt. Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiß ins Grau. Um zehn Uhr kam die Sonne als schwach erleuchteter Rauch über ihren Berg, ein matt gespenstisches Leben, einen fahlen Schein von Sinnlichkeit in die nichtig unkenntliche Landschaft zu bringen. Doch alles blieb in geisterhafter Zartheit und Blässe, bar jeder Linie, die das Auge mit Sicherheit hätte nachvollziehen können. Gipfelkonturen verschwammen, vernebelten, verrauchten. Bleich beschienene Schneeflächen, die hinter- und übereinander aufstiegen, leiteten den Blick ins Wesenlose…“

Die Urmonotonie des Naturbildes, die Welt ohne Farben, ja ohne Zeichnung sogar: Weiss wie eine unbemalte, grundierte Leinwand. Weiss wie ein unbeschriebenes Blatt. Weiss wie eine unendlich grosse Projektionsfläche für Geschichten, Gedanken, Bilder für Hans Castorps Schneetraum. Hierin lässt Thomas Mann den jungen Mann in verlockenden Sequenzen inmitten eines Schneesturmes zur Schlussfolgerung kommen, dass das Leben und der Tod eine Einheit sind.

Welche Szenerie wäre für solche Reflektionen besser geeignet als die lebensfeindliche Umklammerung des Winters, der Fiebertraum kurz vor dem drohenden Erfrierungstod, dem Castorp aber schliesslich entkommt? Die Nähe von Leben und Tod, von Frost und Schönheit gab und gibt es im von Thomas Mann beschrieben Winter in den Alpen. Die gab und gibt es  ebenso in den weit entfernten Welten jenseits des Polarkreises. Grönland, die Arktis, Gletscher, Packeis haben seit jeher die Phantasie ebenso herausgefordert, wie den Ehrgeiz gerade dort, wo sich die Welt besonders abweisend, gleichgültig, bedrohlich zeigt, sie zu erobern oder zumindest sich selbst in ihr zu beweisen. Denn die endlose Schneelandschaft ist nicht nur bar zivilisatorischer Annehmlichkeiten, sondern auch ein Ort der endlosen, energieraubenden Kälte.

Und hier im Kunstraum Engländerbau? Kältekammern und Gefriertruhen waren durchaus schon als künstlerische Mittel im Einsatz, aber Stefan Rohner und Mirjam Kradolfer verzichten bewusst auf solch naturalistische Anleihen, stattdessen konstruieren sie eine Welt der Vorstellung, eine Welt, die Erfahrungen in Erinnerung ruft und daher weitaus grösser ist, als es die reale Inszenierung von Kälte sein kann. Vergleichbar ist dies mit Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“: Die dicke Eisdecke des Meeres ist aufgebrochen, Eisschollen türmen sich, schieben sich ineinander, ein düsterer, grauer Himmel wölbt sich darüber und plötzlich gerät das Segelschiff in den Blick. Nur das Heck des hölzernen Rumpfes ist zu sehen, Teile der zersplitterten Masten ragen an anderen Stellen aus dem Eis. Hier braucht das Frösteln keine Kältemaschine.

Ganz so dramatisch geht es in Stefan Rohners und Mirjam Kradolfers Eisfabrik nicht zu und doch ist das arktische Klima präsent. Das Licht ist kalt und gleissend, der Raum weit, das Weiss dominant. Und überhaupt: Wozu ausser als Waffe gegen die Kälte sollte der siebenfache Mumienschlafsack dienen? Wozu Pelzkappe und Fellstiefel? Wo sollten die merkwürdigen Schneebrillen ausgegraben worden sein, wenn nicht aus dem ewigen Eis? Und dann diese Töne. Klirren, Scharren, Wummern, schepperndes Metall, Gletscher kalben, Eiswind pfeift uns um die Ohren. Hier ist die andere Erscheinung des „weissen Rauschens“: Vertraut ist der Begriff aus der Akustik und dürfte vor allem Eltern bekannt sein, denn das „weisse Rauschen“ gilt als jenes monotone Geräusch, das Babies einschlafen lässt und dass, wenn kein Staubsauger zur Hand ist, auf CD gekauft oder als MP3 aus dem Netz heruntergeladen werden kann. Diesem Ton wird nachgesagt, eine leicht betäubende Wirkung auf das Gehör zu haben, so dass es sich als Methode zur Lärmbekämpfung etabliert hat. Lassen wir uns also betäuben? Eher erinnert die Klangkulisse von Sven Bösiger und Patrick Kessler an das „weisse Rauschen“ der Ingenieurs- und mathematischen Wissenschaften. Hier steht es für ein mathematisches Modell zur Beschreibung von Störungen in einem sonst idealen Umfeld. In der Ausstellung bietet es statt der wattierten Lautlosigkeit des Tiefschnees vielfältige assoziationsreiche Klänge. Die Töne wandeln sich. Statt Monotonie sind mal technisch, mal archaisch wirkende Klänge zu hören. Mal evozieren sie anthropologische  Geräusche, mal scheint das Wetter in den Ausstellungsraum zu dringen. Denken wir an brechende Eisschollen? An animistische Kulte? An Schneestürme, die nicht nur Thomas Mann so eindringlich beschrieben hat? Beginnen wir uns zu grausen, wenn wir uns vorstellen, wie sein Protagonist Hans Castorp sich als ungeübter Skiläufer und natürlich ohne Funktionskleidung und Lawinensonde in die Natur begibt? Gerade dieser Schauder macht auch die Faszination der kalten Sphären aus:

„Nein, die Welt in ihrem bodenlosen Schweigen hatte nichts Wirtliches, sie empfing den Besucher auf dessen eigene Rechnung und Gefahr, sie nahm ihn nicht eigentlich an und auf, sie duldete sein Eindringen, seine Gegenwart auf eine nicht geheuere, für nichts gutstehende Weise, und Gefühle des still bedrohlich Elementaren, des nicht einmal Feindseligen, vielmehr des Gleichgültig-Tödlichen waren es, die von ihr ausgingen. Das Kind der Zivilisation, fern und fremd der wilden Natur von Hause aus, ist ihrer Größe viel zuträglicher als ihr rauer Sohn, der, von Kindesbeinen auf sie angewiesen, in nüchterner Vertraulichkeit mit ihr lebt. Dieser kennt kaum die religiöse Furcht, mit der jener, die Augenbrauen hochgezogen, vor sie tritt und die sein ganzes Empfindungsverhältnis zu ihr in der Tiefe bestimmt, eine beständige fromme Erschütterung und scheue Erregung in seiner Seele unterhält.“

Es ist der Reiz des Fremden, der schwerer wiegt als jener des Exotischen. Es ist genau jener Reiz der weissen Finsternis, der rohen Naturgewalten, ja, des Lebensfeindlichen, der Entdecker, Wagemutige und Phantasten aus der zivilisatorischen Geborgenheit heraus lockt und den Polen zutreibt, real oder in Gedankenreisen. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner haben umfassend recherchiert. Sie haben die Expeditionsliteratur studiert, belletristische Bücher und Texte gelesen, haben Fotobücher und Filme zusammengetragen und sind den künstlerischen Auseinandersetzungen mit Schnee und Eis nachgegangen. Das Spektrum ist breit und reicht von „The Amundsen Photographs“ über Anna Kims „Anatomie einer Nacht“ die  Schneegedichte von Ron Winkler, Allan Kaprows Happening „Fluids“ bis zu Pierre Bayards „Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist“. Denn auch das gehört dazu: Die Pole nähren die Sehnsucht, aber nicht jeder Traum will verwirklicht werden. Mitunter sind die Reisen im Kopf ergiebiger als grosse Pionierleistungen. Auch „Das weisse Rauschen – Aus der Eisfabrik“ ist das Resultat einer Kopfreise. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner haben es geschafft, sich von all den grossen Taten, Worten und Bildern nicht überwältigen zu lassen, sondern Eigenes entwickelt und alles zu einem neuen Bild verflochten. Zu einem Bild, in dem nicht alles nur erhaben, majestätisch oder gar bedrohlich daherkommt, sondern auch Brüche, Irritationen und sogar Unbefangenheit und Witz möglich sind. Wenn einer denn genau beobachtet:

„Um Mittag zeigte die Sonne, halb durchbrechend, das Bestreben, den Nebel in Bläue zu lösen. Ihr Versuch blieb fern vom Gelingen; doch eine Ahnung von Himmelsblau war augenblicksweise zu erfassen, und das wenige Licht reichte hin, die durch das Schneeabenteuer wunderlich entstellte Gegend weithin diamanten aufglitzern zu lassen. Gewöhnlich hörte es auf zu schneien um diese Stunde, gleichsam um einen Überblick über das Erreichte zu gewähren, ja, diesem Zweck schienen auch die einigen eingestreuten Sonnentage zu diesen, an denen das Gestöber ruhte und der unvermittelte Himmelsbrand die köstlich reine Oberfläche der Massen von Neuschnee anzuschmelzen suchte. Das Bild der Welt war märchenhaft, kindlich und komisch. Die dicken, lockeren, wie aufgeschüttelten Kissen auf den Zweigen der Bäume, die Buckel des Bodens, unter denen sich kriechendes Holz oder Felsvorsprünge verbargen, das Hockende, Versunkene, possierlich Vermummte der Landschaft, das ergab eine Gnomenwelt, lächerlich anzusehn und wie aus dem Märchenbuch.“

Und hier nun also kippen Eulen vom Ast, tanzen Schamanen auf Gletschern, fahren kleine Gnome umher oder sind es eingeschneite meteorologische Messstationen? Wer auf den fliegenden Teppich steigt, kann es vielleicht herausbekommen, kann auf Erkundungsreise gehen. Ganz ohne Kerosin. Das tut auch dem Winter, den Gletschern und dem Polareis gut.

* kursiv = Zitate aus Thomas Mann: „Der Zauberberg“, 1924