Interview mit Christian Boltanski

by Kristin Schmidt

Ein unvoreingenommener Betrachter Ihrer Werke wäre sicherlich verwundert zu hören, dass Sie von sich selbst sagen: «Ich bin ein Maler». Was bedeutet es für Sie, ein Maler zu sein? Was ist Malerei für Sie? Es gibt zwei Arten von Künstlern. Die einen arbeiten mit dem Raum und die anderen arbeiten mit der Zeit, zu letzteren gehören beispielsweise Musiker und Regisseure. Ich jedoch arbeite mit dem Raum. In meinen Ausstellungen können Besucher zwei Minuten im ersten Raum bleiben oder 15 Minuten, das kann ich nicht beeinflussen. Selbst wenn ich mit dem Medium Video arbeite, ist das so. Es gibt Videos, die in der Zeit oder solche, die in der räumlichen Ebene funktionieren. Erzählungen beispielsweise laufen in der Zeit ab, aber bei meinen Videos muss man nicht sitzen bleiben, man kann kommen und wieder gehen in jedem Moment des Videos. Der Unterschied ist also nicht das Medium, sondern der Gebrauch von Zeit oder Raum. Und ich möchte mit meinen Werken Gefühle erzeugen und Fragen stellen, ohne Worte zu verwenden oder Worte wie Bilder einzusetzen. Maler arbeiten mit Bildern.

Wie definieren Sie sich als Künstler, was treibt Sie an? Ich sehe meine Arbeit als die eines Philosophen. Jedes Werk stellt eine Frage. Die Werke entstehen nicht um ihrer selbst willen, sondern sie sind der Weg, Fragen zu stellen. Die Philosophie wirft Fragen auf, die klassischen Fragen zu Natur, Leben und Tod. Diese Fragen sind für alle Künstler die gleichen und es gibt sie von Anfang an.

Wir Künstler verwenden zwar verschiedene Ausdrücke, behandeln aber dieselben Themen, so wie Die Leiden des jungen Werther von Goethe oder die Fragments d’un discours amoureux von Barthes das gleiche Buch in verschiedenen Sprachen ist. Es geht in meinen Werken nicht um Schönheit oder Ästhetik, sondern um diese ganz grundlegenden Fragen. Ich stelle sie mir selbst, und ich stelle sie den Betrachtern meiner Werke.

Sie waren 12 Jahre alt, als Sie entschieden, die Schule nicht weiter zu besuchen und zu Hause zu bleiben. Und Sie haben nie Kunst studiert. Wie haben Sie mit der Kunst begonnen? Ich wollte nicht weiter zur Schule gehen. Ich blieb daheim, machte kleine Objekte und zeichnete. Meinen Eltern gefielen diese Zeichnungen. Ich stamme aus einer intellektuellen, bürgerlichen Familie, und so wurde es umstandslos akzeptiert, dass ich Künstler werden und nicht länger zur Schule gehen wollte. In anderen Familien wäre ich vielleicht gezwungen worden, in eine Fabrik zu gehen und zu arbeiten, dann würde ich jetzt wahrscheinlich in einer Nervenklinik sitzen.

Sehr bald habe ich begonnen, an sehr grossformatigen Gemälden zu arbeiten. Ich war stets sehr aktiv und ich habe nie an dem gezweifelt, was ich tat. Es gibt diese Redewendung: Du brauchst kein Licht, wenn Gott Dich führt. Ich habe lange Zeit als Professor an der Kunst- akademie gelehrt, aber eigentlich gibt es in der Kunst weder etwas zu lernen, noch zu lehren. Du musst warten und hoffen. Künstler sein ist kein Beruf, in diesem Sinne habe ich auch nie gearbeitet. Alles, was ich getan habe, habe ich getan, weil es genau so notwendigerweise getan werden musste. Es gibt plötzlich Tage, es sind ihrer nicht viele, da verstehst du etwas. Du verstehst es besser als an anderen Tagen, und dann folgt eine kreative Zeit.

Es kommt also nicht darauf an, die Dinge vorwärts zu treiben, sondern offen zu sein für die Dinge, die um einen herum passieren? Richtig, an manchen Tagen kann das Wasser hier in diesem Glas einen zu einer wichtigen Sache führen, dann entsteht ein Kunstwerk. Man muss nur wach sein und versuchen zu verstehen.

Aber ist es nicht auch eine Frage des Alters, ob man als Künstler die Geduld aufweist, dass die Dinge zu einem kommen? Da bin ich mir nicht sicher. Wir hatten damals als junge Künstler aber auch nicht die Idee der Professionalität und waren nicht umgeben von einem professionalisierten Kunstmarkt. Wir hassten das Geld, wir bemalten Wände und zerstörten unsere Werke wieder, wir waren Utopisten. Mit kleinen Jobs hielt man sich über Wasser. Ich habe zum Beispiel nie ein Werk verkauft und war doch relativ früh bekannt. Ich habe schon 1972 an der von Harald Szeemann kuratierten Documenta teilgenommen. Da habe ich sehr viel gelernt. Er hat beispielsweise einen Aussenseiterkünstler wie Adolf Wölfli neben Konzeptkünstlern gezeigt.

Wie hat sich Ihre eigene Kindheit in Ihr Werk eingeschrieben? Als ich merkte, dass meine Kindheit vorüber ist, habe ich versucht, sie zu bewahren. Aber die Kindheit ist stets das erste, was von einem verschwindet. Je grösser und älter wir werden, desto mehr verlieren wir etwas. Einmal erzählte mir ein Bekannter eine Geschichte: Eine schwangere Frau hat bereits eine kleine Tochter, und das Mädchen sagt: «Sobald das Baby da ist, möchte ich mit ihm sprechen. » Und als das Kind auf der Welt war, wollte sie mit ihm allein sein. Die Eltern waren etwas besorgt und hörten dann aber wie das Mädchen zu dem Neugeborenen sagte: «Erzähle mir von Gott». So hat sie versucht, etwas zu bewahren oder zurückzuholen, was verloren gegangen ist. Wir wissen, dass wir etwas verloren haben, aber es ist nicht mehr fassbar. Wenn du ein Künstler bist, versuchst du, etwas von deiner Kindheit zu bewahren.

In Ihren Werken wird man jedoch nichts von Ihrer eigenen, Ihrer persönlichen Kindheit finden. Die Fiktion überlagert die Wirklichkeit. Ein Künstler spricht stets über die Wahrheit, über etwas, das der andere kennt. Aber Betrachter der Werke hatten natürlich niemals dieselbe Kindheit. So wissen Sie, was gemeint ist, wenn ich von Kopfschmerzen spreche, und doch sind es ganz andere Schmerzen für Sie oder für mich. Jeder lebt in seinem eigenen Dorf und sieht, wenn ein Dorf gemeint ist, sein eigenes. Meine Arbeit stimuliert ihre Erinnerungen. Davon leben auch die Bücher Prousts. Wir alle waren als Kind neidisch oder warteten sehnsüchtig auf unsere Mutter. Es gibt diese Gemeinsamkeiten zwischen uns allen, und doch ruft der Duft von Kaffee in jedem von uns andere Erinnerungen wach.

Spielt dies auch eine Rolle in Ihrem Werk «Les suisses morts», die toten Schweizer? Die Schweizer haben keinen historischen Grund zu sterben. Sie verkörpern in meinem Werk die Universalität. Das ist anders als beispielsweise bei Deutschen oder Juden. Schweizer zu sein und zu sterben ist so normal. Es gibt kein Drama, dass man mit ihnen verbinden kann. Und natürlich spielt auch der Vanitasgedanke eine Rolle, die Schweizer sind ein stilles, reiches Volk, und auch sie sterben, dass trifft uns viel mehr.

Es gibt diesen Ausspruch von Johann Gottlieb Fichte «Arm oder reich, der Tod macht alle gleich». Ja, diese Redewendungen gibt es in allen Sprachen. Ich habe ca. 8000 Fotografien von Schweizern gesammelt, die natürlich noch am Leben waren, als die Fotografien gemacht wurden.

Sammeln Sie die Fotografien eigens für bestimmte Werke, oder haben Sie ein Reservoir angelegt, aus dem Sie dann für Ihre Werke schöpfen? Meist ging die Idee voraus und dann habe ich begonnen zu sammeln. Aber dann gab es natürlich einen gewissen Fundus und ich habe oft dieselben Fotos wieder verwendet, aber nun arbeite ich gar nicht mehr mit Fotografien. Ich habe auch nie ein Foto selbst aufgenommen, denn die Fotografien sollten stets Teil der Realität sein. Es ist ja so, dass durch den Tod ein Subjekt zum Objekt wird – ganz gleich, ob es ein toter Körper ist, ein Kleidungsstück oder ein Foto, es wird ein Objekt mit einem Bezug zu einem Subjekt. So steht das Fotografieren auch immer in Bezug zum Sterben.

Auf italienischen Friedhöfen fallen mir immer besonders die Gräber ins Auge, bei denen ein Foto des Verstorbenen zu finden ist. Aber die Namen sind ebenso wichtig. Ich habe sowohl Bücher mit Fotografien Verstorbener als auch mit Namen gemacht. Auch mit dem Namen verbindet sich die Person. Jeder Mensch ist so einzigartig und so verletzlich. Schon nach zwei Generationen sind wir verschwunden. Aber wenn wir einen Namen sagen, ist deutlich, dass es da jemanden gab, der wichtig war. Das Gleiche gilt auch für meine Arbeit mit den Herzschlägen. Ob Kleidung, Foto, Name oder Herzschlag – da war jemand, der wichtig war.

Ist Ihre Arbeit gegen den Tod gerichtet? Nein, überhaupt nicht. Ich schätzte z.B. Giacometti sehr, er hat wieder und wieder versucht, ein Bild seines Bruders zu modellieren, um ihn auf eine gewisse Weise zu bewahren. Und zugleich wusste er, dass er damit nie erfolgreich sein würde. Ich kann versuchen, jemanden zu bewahren, aber es wird nie wirklich dieser Mensch sein. Wir können gegen das Verschwinden ankämpfen, aber wir können es nicht verhindern. Das ist eine der grossen Fragen der Menschheit. Heutzutage versuchen wir zu vergessen, dass wir sterben. Es gibt keine letzten Worte mehr. Wir weigern uns, über den Tod zu sprechen, über das Älterwerden. Aber ich denke, es wäre wichtig, sich dem nicht zu verweigern.

Dies hat, denke ich, auch mit unserer veränderten Religiosität zu tun, wo das Leben nach dem Tod kein selbstverständlicher Gedanke mehr ist. Sie haben immer wieder auch mit Formen gearbeitet, die an Altäre erinnern. Welche Bedeutung hat dieses religiöse Zeichen in Ihrem Werk?

Ich bin kein religiöser Mensch, oder zumindest keiner, der einer bestimmten Religion anhängt. Ich versuche aber zu verstehen, was es heisst, religiös oder spirituell zu sein. Und ich glaube, niemand kann uns ersetzen, aber es wird immer weitergehen. Wir stehen in einer Linie mit Menschen vor und nach uns. Wenn ich Altarformen verwende, so weil wir Menschen den Drang haben, Formen zu organisieren und damit etwas bestimmtes auszudrücken. Jeder kennt diese Altarform und versteht sie. So kann jeder ein solches Werk auf seine Weise mit seinem Hintergrund beleben. Ich bin kein konzeptueller Künstler und ich möchte, dass die Betrachter auch ohne kunsthistorisches Wissen meine Werke empfinden und erspüren können. Deshalb stelle ich auch gern ausserhalb von Museen aus, in Garagen oder Kirchen etwa. Es ist dort viel leichter, die Menschen zu berühren.

Dass Sie nicht mehr mit Fotografien arbeiten – hat das mit der durch die Digitalisierung extrem gestiegenen Verfügbarkeit der Bilder zu tun? Ich nutze den Rechner durchaus auch. Denn durch diese Digitalisierung ist eine viel engere zeitliche Vernetzung möglich geworden. Ich kann ein Bild oder ein Video zeitgleich an zwei entfernten Orten der Welt sehen. So habe ich jetzt ein Werk entwickelt, wo in einer Höhle in Tasmanien als einem sehr weit entfernten Land ständig ein Kamerablick in mein Studio gezeigt wird. Gleichzeitig wird das Ganze auf DVD aufgezeichnet.

Sie arbeiten viel mit Kerzen, mit Glühbirnen, mit Licht und dem Schatten. Auch damit entwickeln Sie eine ganz besondere Atmosphäre, die den Betrachter umfängt und berührt. Es ist mir wichtig, dass der Betrachter nicht vor dem Werk bleibt, sondern vom Kunstwerk umgeben ist, sozusagen in dem Kunstwerk ist. So ist auch diese Ausstellung schlussendlich ein einziges grosses Werk aus verschiedenen Elementen.

Interview mit Christian Boltanski für das Kunstmuseum Lichtenstein, anlässlich der Ausstellung Christian Boltanski. La vie possible vom 15. Mai bis 16. September 2009