Ein Wald voller Kinder

by Kristin Schmidt

„Ich spiele lieber drinnen, denn da gibt es Steckdosen.“ Du auch? Oder bist du gern draussen? Kletterst auf Bäume, spielst in Wald und Wiese? Die Waldkinder spielen nicht nur im Freien, sie lernen dort auch.

Eine Stunde dauert 45 Minuten. Oder 90 Minuten, wenn es eine Doppelstunde ist. Dann ertönt der Pausengong oder die Schulklingel. Nun stell dir vor, du lernst ohne Pausenzeichen, aber nicht ohne Pause. Einfach so lange, wie du fürs Lernen brauchst und begleitet von Vogelgezwitscher. Stell dir vor, du hast keinen immer gleichen, festen Platz im Klassenzimmer, sondern kannst dich an deinen Lieblingsort zurückziehen. Oder du triffst dich mit Freundinnen und Freunden am Spechtplatz, am Moosmenschenplatz oder im Hasenwäldli. Was mehr nach Freizeit klingt als nach Lernen, ist trotzdem Schule, Waldschule eben. Im Notkersegg St.Gallen lernen die Kinder der Waldbasisstufe, und sie spielen. Meist funktioniert beides gleichzeitig. Denn im Wald gibt es immer viel von beidem zu tun, da wird gegraben und gebaut, da wird gemessen und gerechnet, gemalt und geschrieben. Zum Beispiel wenn für den selbst konstruierten Baumausguck eine Strickleiter gebraucht wird: Zwei Seile sind da, sechs Äste sind gefunden und zu Sprossen gesägt. Aber in welchen Abständen werden die Hölzer am besten ins Seil geknüpft, damit sie gleichmässig verteilt sind? Da wird gerechnet.

Im Wald ergeben sich die Aufgaben oft von selbst. Wieviel Zeit für ihre Lösung benötigt wird, bestimmt nicht das Pausenzeichen, das bestimmen die Kinder. Es geht schliesslich nicht nur um die Lösung, sondern darum, Spass an der Sache zu haben. Wenn ausgemessen wurde, ob die Gunten tief genug sind zum Reinspringen, wird auch ausgiebig getestet, ob das Ergebnis stimmt.

Oder zum Beispiel im Winter: Eine Schlittelbahn ist ein guter Grund zum Rechnen. Wie sonst lässt sich die Geschwindigkeit bestimmen? Also wird die Bahn präpariert und ausgemessen. Die Zeiten werden gestoppt und anschliessend wird gerechnet – und wieder geschlittelt.

Nicht nur Rechnen, auch Schreiben und Lesen lässt sich aus dem Tun heraus üben: Wenn ein Schnee- und Glacestand aufgebaut wird, dann werden Tafeln für alle Sorten geschrieben, und natürlich die Preisschilder. Es werden Brieffreundschaften geschlossen und Erlebnisberichte geschrieben.

Schreiben? Im Winter? In Regen und Matsch? Wenn die Finger zu klamm sind, dann haben die Waldkinder den geheizten Bauwagen. Aber draussen sind sie viel lieber. Auch bei Regen und Gewitter. Da lassen sich dann die nächsten Dinge lernen. Schliesslich hilft es nicht nur weiter, wenn jemand Rechnen und Schreiben kann. Wichtig ist es auch zu wissen, was du am besten tust, wenn es blitzt und donnert. Auf einen Baum klettern und abwarten? Mit dem Velo heimsausen? Besser nicht.

Die Waldkinder lernen in der Waldbasisstufe all das und noch viel mehr. Vieles davon ist weit von der Schulhauswelt entfernt, aber nicht vom Leben. Nur im Wald wird das Essen auf dem Feuer gekocht. Nur hier kann direkt daneben eine Matschsuppe angerührt und der eigene Suppenlöffel geschnitzt werden. Hier lässt sich der Duft des Fuchses vor seinem Bau erschnuppern. Im Winterwald folgen die Kinder der Spur des Eichhörnlis. Im Frühling gibt es den Vogelmorgen, dann lauscht, wer will, dem frühen Vogelkonzert. Im Sommer wird der Bach gestaut. Im Herbst gibt es Laubhaufen, in denen alle bis zum Hals versinken. Auch wer später nicht unbedingt Architekt, Tierforscher oder Schreiner werden will, im Wald ist‘s allemal spannend.

Ostschweiz am Sonntag, Kinderseite