Renate Flury, Frischluft

by Kristin Schmidt

Das Gehirn braucht Sauerstoff zum Denken, je mehr, desto besser. Zwei Turbogebläse pusten frische Luft in den Veranstaltungssaal. Die kräftige Brise weht durch den Raum, sie tönt und strömt, sie beansprucht Aufmerksamkeit. Statt das Denken zu fördern, unterbricht das windige Brausen die Konzentration. Oder bringt es die abgeschweiften Gedanken zurück zum Ort des Geschehens?

Renate Flury inszeniert mit „FrischLuft“ eindrucksvolle Störmomente innerhalb der Kulturlandsgemeinde. Eben noch drehte sich alles ums Wohl- oder Übelsein und plötzlich trägt der Wind nicht nur die Worte davon, sondern mit ihnen die geäusserten Überzeugungen und Ideen ebenso wie deren Reflexion im Publikum. Für eine Minute lang erobert sich der mächtige Luftzug einen Platz in den Köpfen, schafft Raum für einen neuen Denkanfang.

Renate Flury hat eine Arbeit entwickelt, die gerade in ihrer immateriellen Erscheinung grösste Präsenz und Wirksamkeit entfaltet. Die Thurgauer Bildhauerin (1953 in Zürich geboren) beschreitet mit „FrischLuft“ neue Wege, die dennoch in logischer Konsequenz zum Vorangegangenen stehen. Was im Material Stein seinen Anfang nahm ist nun im Atmosphärischen angelangt, besitzt aber von nach wie vor gewichtige Ausdruckskraft.

Vor dem Eingang zum Hotel Krone ist ein Werk aus Muschelkalk zu sehen. Es gehört zur Gruppe der „Traumwesen“. Es ist weder Mensch noch Tier, genauso wenig gibt es ein Vorn oder Hinten. Die Skulptur will umrundet werden, nur so offenbart sie sich in Gänze. Männlich und weiblich finden unter dem wuchernden Haupt zu einer Einheit zusammen.

Der menschliche Körper ist immer wieder Gegenstand der künstlerischen Forschung Renate Flurys: Ende der 1990er Jahre übersetzt die Künstlerin menschliche Knochen zehnfach vergrössert in Marmor. Die Serie ist nicht abgeschlossen, da ist Flury gezwungen, sich neue künstlerische Materialien anzueignen. Die Künstlerin ist an Multipler Sklerose erkrankt. In den frühen 2000er Jahren beginnt sie mit Schaumstoff zu arbeiten. Der künstlerische Prozess ist in diesem Material ähnlich wie beim Behauen des Steines: „Ich muss die richtigen Punkte finden. Im Weghauen des Materials befreie ich das Werk aus der vorgegebenen Form.“ Es entstehen die pcbodys – ins Körperhafte übersetzte Computerkürzel, wie sie Drucker statt konkreter Fehlermeldungen ausspucken. Dem Zufälligen wird eine bleibende Form verliehen. Das gleiche Prinzip verfolgt Flury auch in ihren Wachstagebüchern: Die kleinen Plastiken sind Momentaufnahmen. Mit ihnen hält die Künstlerin Begegnungen, Ereignisse oder Dinge aus ihrem Alltag fest, verleiht ihnen eine neue Geltung.

Dem Flüchtigen und Unscheinbaren widmet sich Renate Flury auch in ihren Fotografien und Computerbildern. Erstere lenken den Blick auf Körperdetails, letztere sind spontan entstandene, fragile Kritzeleien, witzig, schwerelos, unbeschwert – so wie „FrischLuft“.