Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Caspar David Friedrich und die Vorboten der Moderne

Das Kunst Museum Winterthur zeigt die erste grosse Einzelausstellung mit Werken Caspar David Friedrichs in der Schweiz. Es präsentiert den Künstler im Kreise von Zeitgenossen und Vorläufern. Dank der eigenen erstklassigen Bestände konnten Schlüsselwerke nach Winterthur ausgeliehen werden.

Über die Rückenfigur in Caspar David Friedrichs Gemälden wurde und wird viel geschrieben, ebensoviel über die Symbolik der Kreuze, Anker oder Schiffe in seinem Werk. Die Einen betonen das Politische im Werk des Künstlers, die Anderen das Religiöse und die Dritten sehen es von Krankheit beeinflusst. Das Kunst Museum Winterthur mischt sich in diese Debatten nicht ein – und tut gut daran. Es legt den Fokus auf Friedrichs Vorläufer und sein künstlerisches Netzwerk. Die Ausstellung ist aus den eigenen Beständen und jenen des Kooperationspartners Museum Georg Schäfer in Schweinfurt heraus entwickelt. Das Projekt ist ein geschickter Schachzug, denn es kommt den grossen Institutionen zuvor, die das Werk des Romantikers ab 2024 anlässlich seines 250. Geburtstages zeigen. Dann wird auch der Winterthurer ‹Kreisefelsen auf Rügen›, 1818 für längere Zeit auf Reisen gehen. Im Gegenzug sind nun andere Meisterwerke erstmals in der Schweiz zu sehen.
Am Anfang der Ausstellung stehen die Papierarbeiten. Sepiablätter zeigen, wie Friedrich von Adrian Zingg beeinflusst wurde. Der aus St.Gallen stammende Dresdner Akademieprofessor schilderte Szenerien jedoch pittoresk und anekdotisch. Friedrich hingegen setzt auf Reduktion und konstruiert erhabene Landschaften. Zingg brachte aus der Schweiz ausserdem sein Interesse für die unmittelbare Umgebung mit, statt sich wie Zeitgenossen auf ausgedehnte Italienreisen zu begeben. Friedrich tat es ihm nach und fand seine Sujets im Elbsandsteingebirge, im Riesengebirge oder in seiner Heimat Vorpommern. In Winterthur sind die Gemälde motivisch geordnet: die Seestücke, die Baumgruppen, die Gebirgsbilder. Überall führen sorgfältig ausgewählte Einschübe zu sehenswerten Nachbarschaften, so von Caspar David Friedrich und Jacob van Ruisdael. Friedrich kannte dessen Werke aus den Dresdner Gemäldesammlungen. In Winterthur zeigen sich die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in Komposition und Farbe. Solche Vergleiche ermöglicht auch die prominente Hängung dreier Werke an der Stirnseite des Raumes: Gebirgslandschaften von Joseph Anton Koch und Carl Gustav Carus rahmen Caspar David Friedrichs ‹Der Watzmann›, 1824/25. Während Koch einen vielgestaltigen Gesamteindruck liefert, zeigt Carus eine realistische Naturschilderung. Friedrich hingegen baut dem Berg einen Sockel aus kahlen Hügeln und Felsen. In seiner künstlerischen Radikalität und Strenge brach er mit allen Konventionen der Landschaftsmalerei und steht an der Schwelle zur Moderne.

Caspar David Friedrich – Das Kunst Museum Winterthur präsentiert seine erste Schweizer Ausstellung

David Friedrich kam 1774 in Greifswald zur Welt. Das Kunst Museum Winterthur feiert den bedeutendsten Maler der deutschen Romantik bereits jetzt mit der einzigen Jubiläumsschau der Schweiz. Sie ist eine der grössten Ausstellungen des Kunst Museum Winterthur der vergangenen Jahre und ist mit hervorragenden Leihgaben bestückt.

Die erste grosse und einzige Museumsausstellung von Caspar David Friedrich in der Schweiz – die Ankündigung des Kunst Museum Winterthur überrascht. Dem Künstler wurde nie eine eigene Schau gewidmet? Schliesslich verfügt das Museum dank der Stiftung Oskar Reinhart über die grösste Werkgruppe des Künstlers ausserhalb Deutschlands. Das allein wäre längst eine Ausstellung wert gewesen. Ausserdem befindet sich eines von Friedrichs wichtigsten Werken in Winterthur: «Kreidefelsen auf Rügen». Nun gehört es zu den zentralen Stücken in «Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik». 
Die Ausstellung ist nicht nur überfällig, sondern auch ein geschickter Schachzug des Kunst Museum Winterthur. Im nächsten Jahr jährt sich der Geburtstag des Künstlers zum 250. Mal und die grossen Museen in Hamburg, Berlin und Dresden feiern ihn mit eigenen Präsentationen, dann sind Leihgaben schwer zu bekommen und auch die Gemälde aus Winterthur für lange Zeit auf Reisen. Winterthur zeigt also in guter Voraussicht die Ausstellung bereits in diesem Jahr. Obendrein setzt es einen besonderen thematischen Schwerpunkt: Noch nie waren Werke Caspar David Friedrichs neben denjenigen seiner Vorläufer zu sehen. 
Auch so ein radikaler, eigenständiger Künstler wie Caspar David Friedrich beginnt nicht bei null. Auch er hat sich von älterer Kunst und von Zeitgenossen inspirieren lassen. Einer davon war der St.Galler Adrian Zingg. Er unterrichtete an der Dresdner Akademie und war bekannt für seine Landschaftsbilder in Sepiatechnik. Sie stehen am Anfang der Ausstellung im Kunst Museum Winterthur und zeigen den grossen Einfluss Zinggs auf Friedrich, aber auch die Eigenständigkeit des Letzteren. Beide Künstler teilen das Interesse für die Natur, ihre Schönheit und Grösse. Zingg ist jedoch detailverliebt und erzählerisch, während Caspar David Friedrich ein Meister ist im Weglassen. Seine Landschaften entfalten ihre Wirkung aus der Reduktion auf das Wesentliche. Eine Baumgruppe, ein Hünengrab, ein paar Felsbrocken am Meeresufer, eine sanft geschwungene Hügelkette und davor Leere: Friedrichs verzichtet auf kleinteilige, belebte Szenen. Sein Metier ist die erhabene, grossartige Natur. Das sorgte schon zu seinen Lebzeiten für Diskussionen. Damals vermissten manche das Liebliche in seinen Gemälden, andere empfanden es als Anmassung mit Landschaftsbildern das Göttliche ausdrücken zu wollen. Heute wird darüber gestritten, ob Friedrich ein religiöser Künstler war, ein politischer oder ein Naturmystiker. Das Kunst Museum Winterthur mischt sich in diese Debatten nicht ein, sondern lässt die Werke selbst sprechen. 
Die Inszenierung ist stimmig. Auf tiefblauen Stellwänden und an der Stirnseite des Raumes hängen Schlüsselwerke Caspar David Friedrichs: So konnte beispielsweise der berühmte «Wanderer über dem Nebelmeer» aus der Hamburger Kunsthalle ausgeliehen werden, oder «Der Watzmann» aus der Berliner Nationalgalerie. An den Längswänden des Raumes sind die kleineren Formate platziert, sie sind nach Motiven gruppiert: Die Küste bei Mondenschein, die Baumgruppen, die Segelschiffe. Friedrich wird neben Künstlern wie Claude Lorrain oder Jacob van Ruisdael gezeigt, auf diese Weise sind gute Vergleiche möglich. Eine ansehnliche Zahl von Werken stammt aus dem Museum Georg Schäfer in Schweinfurt, das für diese Ausstellung mit dem Kunst Museum Winterthur kooperiert hat. So konnte eine reichhaltige, stimmige Schau des grossen Romantikers Friedrich zusammengestellt werden.

Obacht Kultur, Farbe

Lisa Rotach, Naturfarben: «Wir lassen uns aufs Material ein, es gibt den Umgang und die Zeit vor.»

«Machen Sie mal, das wird schon gut.» – solche Sätze hört Lisa Rotach manchmal von ihren Kundinnen oder Kunden. Dieses Vertrauen ist schön, dennoch möchte die Malerin ihre Arbeit im Austausch entwickeln. Schliesslich werden Farben sehr unterschiedlich wahrgenommen und können die Atmosphäre eines Gebäudes entscheidend beeinflussen. Für Lisa Rotach ist es wichtig zu erfahren, wie die Menschen leben, wie sie die Räume nutzen, welche Lieblingsfarben sie haben. Denn ihre Arbeit geht weit über einen Wandstrich hinaus: «Ich vermittle, wie Farben eingesetzt werden können in Verbindung mit Architektur und Licht.» Diese konzeptuelle Arbeit gehört nicht zu den Grundkenntnissen im Malerhandwerk. Lisa Rotach hat sie sich in mehreren Weiterbildungen angeeignet. Am Anfang stand eine konventionelle Malerlehre und die die Arbeit in einem Grossbetrieb mit künstlichen Farben. Das war für Lisa Rotach weder interessant genug noch der Gesundheit zuträglich, deshalb hat sie sich für einen anderen Weg entschieden, hat eine Ausbildung zur Baubiologin abgeschlossen, mehre Weiterbildungen absolviert und ist zertifizierte «Meisterin der Farbe». Damit arbeitet sie nach den Farbprinzipien von Le Corbusier mit natürlichen Farbpigmenten: «Ich mache keine Abstriche mehr bei der Qualität und der Ökologie. Unsere Farben mischen wir selber im Betrieb nach biologischen Grundsätzen.» Einem aktuellen Trend folgt sie damit nicht, sondern einem Grundbedürfnis der Menschen: «Wir verbringen viel Zeit im Innenraum, da ist es wichtig womit wir uns umgeben – Gift passt da nicht dazu.» Allerdings gibt es einen limitierenden Faktor in der Arbeit mit Naturfarben: die Zeit. Die Prozesse dauern länger, die Farben trocknen langsamer. Aber für Lisa Rotach ist auch das keine Hürde: «Wir lassen uns aufs Material ein, es gibt den Umgang und die Zeit vor.»

Jürg Müller, CEO arcolor, Waldstatt: «Unsere Farbe muss was aushalten!»

Trinkröhrli, Paketklebeband und eine graue Tischplatte haben weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick etwas gemeinsam. Und doch: In allen dreien steckt Arbeit von arcolor drin. Hier, in Waldstatt, produziert die Firma Druckfarbe, die weltweit eingesetzt wird – in der Möbelindustrie, für Verpackungsmaterialien und vieles Anderes, das Farbe braucht. Arcolor stellt Konzentrate her, die an die Druckereien geliefert werden, die wiederum die weiterverarbeitenden Betriebe beliefern – bis schliesslich der Tisch, der Trinkhalm oder das zugeklebte Paket im Haushalt oder im Büro landen. Arcolor ist Teil einer langen Kette und muss alle ihre Glieder im Blick behalten, wie Jörg Müller, CEO von arcolor, betont: «Farbe ist viel mehr als ein Farbton. Sie muss temperaturbeständig sein, gut verarbeitbar und zum Schluss auch lichtecht. Unsere Farben müssen auf langer Strecke etwas aushalten.» Denn ein Möbel ist kein Wegwerfartikel, selbst wenn seine Farbe Trends unterworfen ist. Während also die Konsumindustrie auf Trendscouts setzt, ist bei arcolor die grösste Abteilung jene für «Forschung und Entwicklung». Sie tüftelt an Zusammensetzungen, deren Pigmente nicht die Farbdüsen der Drucker verstopfen, die sich auch auf grossen Flächen homogen verteilen lassen, die leuchten, nicht ausbleichen und selbstverständlich schadstofffrei sind. Arcolor-Farben sind Alleskönner – und deshalb überall gefragt. Von Waldstatt aus gehen fast 100% der hier hergestellten Farbkonzentrate in die ganze Welt und sind in vielen Bereichen das weltweit einzige Fabrikat. Wer also farbig bedruckte Kartons, Folien oder Klebebänder erblickt, hat höchstwahrscheinlich ein bisschen Farbe aus Waldstatt vor sich.

«Obacht Kultur», Farbe, N° 46, 2023/2

Christian Hörler

Bildbogen, Obacht «Farbe», 1´800 Zeichen max.

Seite A, 2023, Filzstift auf Papier, 43.5 x 30 cm 2023
Seite B, 2023, Filzstift auf Papier, 43.5 x 30cm 2023

Ein Stein wie ein Fels – eine Zeichnung kann die Dimensionen verschieben: Christian Hörler (*1982) legt einen Stein auf ein Blatt Papier und umfährt die Konturen mit einem Stift, legt ihn auf eine andere Weise auf ein neues Blatt Papier und umfährt wieder die Konturen. Jedes Mal entsteht eine andere Form auf dem Papier. Gemeinsam ist diesen linearen Zeichnungen: Sie lassen sich mühelos ins Monumentale weiterdenken: Der Stein wird zum Fels. Diese Verwandtschaft des Kleinen mit dem Grossen beobachtet und studiert Christian Hörler in seiner künstlerischen Arbeit. Er hat sich ein umfangreiches geologisches Spezialwissen angeeignet. Sowohl in den Appenzeller und St. Galler Bibliotheken ist er häufig unterwegs, zugleich hat er daheim in Wald AR eine ansehnliche Büchersammlung. Dabei verfolgt Hörler keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern seinen künstlerischen Ansatz: «Ich suche einen Weg, meine Studien und die Erkenntnisse künstlerisch zu übersetzen.» Das fängt weder in den Büchern an, noch hört es dort auf: Neben der Lektüre gehören die Suche nach Steinen und nach einem weiter gefassten künstlerischen Ausdruck dazu sowie das Ansehen und Verstehen der Landschaft: «Ich bewege mich im Gelände und lerne, es zu lesen und einen selektiven Blick zu entwickeln für natürliche und künstliche Formationen.» Letzteren gilt Hörlers besonderes Interesse: Gezielt sucht er Abbruchstellen, um dort Steine auszuwählen. Eine andere Form der Annäherung sind die abgebildeten Umrisszeichnungen. Die Farbe wählt er dafür intuitiv: «Es ist ein einfacher Griff in die Schublade.» – violett oder dunkelgrün, braun oder grau – für den Stein passt es immer.

Obacht Kultur, Farbe, Bildbogen, N° 46, 2023/2

Obacht «Farbe»
Auftritt Zora Berweger

Reliefs sind das Bindeglied zwischen der zweidimensionalen und der dreidimensionalen Welt. Sie besitzen die flächige Qualität eines Bildes und die räumliche eines Objektes. Zora Berweger arbeitet schon seit längerem aus diesem Grund mit Reliefs und reizt deren Grenzen beiderseits weiter aus: in Richtung Malerei als auch in Richtung Objekt. Die gebürtige Bernerin ist Bürgerin von Stein AR und hat bereits zweimal den Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung erhalten. Sie formt ihre Reliefs unter anderem aus Salzteig, ein Material, das eher als Bastelmaterial bekannt ist denn als künstlerischer Werkstoff – und doch ist es für Zora Berweger genau das richtige: Er ist einfach herzustellen, leicht zu verarbeiten und besitzt eine besondere, raue Oberfläche. Salzteig besteht aus Getreide, Salz und Wasser. Angetan vom archaischen Charakter des Materials verzichtet die Künstlerin sogar darauf, ihre Objekte zu backen, sondern lässt sie einfach trocknen. Dazu passt auch die Bearbeitung mit der blossen Hand: «Ich will nicht gegen das Objekt arbeiten. Das Material fasziniert mich und ich untersuche, welch künstlerisches Potenzial darin steckt, welche Kraft es hat und welche aus den gewellten, den graden Linien und den einfachen Formen kommt.» Die Farbgebung unterstützt diese Kraft. Um nicht gegen das Objekt und seine fein strukturierte Oberfläche zu arbeiten, sprüht die Künstlerin die Farben flach und von den Seiten her auf. Damit betont sie die Dreidimensionalität des Reliefs. Zugleich verschwinden die Grenzen von Lichteinfall und Farbauftrag.
Hier hat die Künstlerin von der einen Seite her pink gesprüht, von der anderen her grün; damit entsteht eine irisierende Wirkung. Der ebenfalls abgebildete Farbkontrollstreifen ist wichtig für jede Reproduktion von Kunstwerken, denn die Kamera reagiert verwirrt auf besondere Farb- oder Lichtsituationen. Druckmaschinen hingegen sind stoisch: Sie verarbeiten die vorliegende Farbinformation, sie interpretieren nicht. Nur die Menschen an der Maschine können das Druckergebnis steuern und perfektionieren. Indem Zora Berweger den Farbkontrollstreifen integriert, verweist sie auf die Übersetzung: Das eigentlich spannende Objekt besteht aus Salzteig, hier ist es nur abgebildet. Aber es ist gestanzt, so lässt es sich herausnehmen. Dann jedoch fehlt auch der fotografierte Schatten – die Reproduktion wird zu einem neuen, eigenständigen Werk.

Obacht Kultur, Farbe, No. 46 | 2023/2

Kooperationen auf der Insel

Die 17. Ausstellung der Kunsthalle[n] Toggenburg führt in Nesslau ein sehenswertes Inseldasein: Auf Helgoland in der Thur haben knapp zwanzig Künstlerinnen und Künstler für zwei Wochen eigens entwickelte Werke installiert.

Wer nach Helgoland reist, nimmt die Fähre oder den Helikopter – oder die S2 Richtung Nesslau-Neu St. Johann. Vom Endbahnhof der S2 sind es 15 Minuten zu Fuss; am Feldrain und ein Stück der Thur entlang und schon kommt die Insel in Sicht. Nicht jene in der Nordsee freilich, aber ihre Namensschwester im Toggenburg: «Helgoland» ist im Gemeindeverzeichnis als offizieller Name des 1808 m2 grossen Eilands vermerkt. Zustande kam er während des ersten Weltkrieges, als Flüchtlingskinder aus Norddeutschland auf dem Kloster-Areal des Johanneums aufgenommen wurden. Für viele ist das Landstück aber einfach das Inseli: eine kleine, grüne Oase mit Kapelle und Grillplatz, mit Blockhütte und Baumschaukel – und nun für zwei Wochen mit Kunst.
Helgoland ist in diesem Jahr Schauplatz des 17. Ausstellungsprojektes der Kunsthalle[n] Toggenburg: «1808 m2» ist eine Ausstellung unter freiem Himmel, jederzeit zugänglich und ohne Kasse. Das inoffizielle Motto dieses Jahr sind die Kooperationen, die Arbeit an Aufgaben, die sich gemeinsam viel besser bewältigen lassen. Wie genau dies umgesetzt wird, war den Künstlerinnen und Künstlern freigestellt. So haben sich Duos gebildet oder es wird mit Mikroorganismen kooperiert oder das Wasser arbeitet mit. Auch die Menschen aus dem Johanneum haben mitgewirkt. Sie strickten gemeinsam mit Madame Tricot wollene Pilze, die über das ganze Areal verteilt aus dem Boden zu schiessen scheinen. Pilze, verbunden durch ihr Myzel, sind das perfekte Bild für erfolgreiches Netzwerken.
Auch Hanes Sturzenegger integriert Mikroorganismen in sein Projekt: «Bleibe» ist von aussen wenig mehr als ein schlichter Holzkasten unter dem First des Blockhauses. Innen jedoch reproduzieren sich lokale Mikroorganismen. Deren Enzyme dienen dann schliesslich der Verfeinerung von Speisen, hier wird experimentell eine kulinarische und künstlerische Zusammenarbeit erprobt. Wie «Bleibe» wirken einige Werke im Verborgenen, andere fallen stärker ins Auge. So beispielsweise die leuchtend pinkfarbene «Femme Fatale» von Müller Tauscher. Sie sitzt an der Feuerstelle und will all jenen, die zum Bräteln kommen, auf die Grillspiesse schauen: Steckt dort Veganes oder Fleischliches? Lasst Euch das Würstli schmecken, aber denkt mal drüber nach…
Andere gesellschaftliche Fragen thematisieren Marc Lohri und Simon Fürstenberg oder Doris Willi und Martin Benz. Das erstgenannte Duo hat «Vorzeichen der Veränderung» ausgesteckt: Die hohen Visierstangen spielen auf Bauprojekte an, die im Landschafts- und im Stadtraum der dicht besiedelten Schweiz regelmässig für Diskussionen sorgen. Auf der kleinen Insel fallen sie in ihrer Grösse – auch im Vergleich zur Kapelle – besonders ins Auge. Direkt daneben haben Benz und Willi eine Lochkamera platziert und ein Beobachtungsfeld umrissen. Wer oder was hier zu welchen Zeiten aufgenommen wird, bleibt im Dunkeln des schuhkartongrossen Kastens verborgen. Sind es die Leute im Hamsterlaufrad? Simon Kindle und Vincent Hofmann haben «Das Eirad» installiert. Es erinnert an Kleintierzubehör und lässt sich benutzen. Für das Publikum bleibt es allerdings gesperrt, denn das bewegliche Oval ist nicht ganz ungefährlich – so wie das ganze Leben mit seinen Aufs und Abs. Bei letzteren helfen manchen Menschen Lebensweisheiten oder die Nähe zur Natur. Darauf beziehen sich Rebecca Koellner und Claudia Zimmer mit «Der Fluss nimmt uns mit». Sie haben auf Baumstämme lyrische Sätze geschrieben und regen zu einer bewussteren Wahrnehmung der Natur und des Selbst an.
Einen «Perspektivwechsel» inszeniert Sonja Rüegg. Sie kooperiert mit arthur#12 und wandelt eine frühere Installation ab: Sie bringt Spiegel an der Schutzhütte auf der Insel an. Sie lassen die Hütte verschwinden, indem sie die Natur reflektieren – eine ebenso schöne wie hintersinnige Geste: Wo hört die Natur auf, wo fängt sie an? Wie bewegt sich der Mensch in ihr? Dazu passt «Meins» von Rosemarie Abderhalden und Ursula Anna Engeler. Die beiden haben zwei Quadratmeter Inselfläche abgesteckt und eine Hängematte darüber gebunden. Damit thematisieren sie sowohl den menschlichen Raumbedarf in der Natur wie auch die Bedeutung der Natur fürs Wohlbefinden.
Spätestens beim Verlassen der Insel kommen die «Lichttöggel» in den Blick: Marcel Cello Schumacher kooperiert mit der Thur. Mehrere Dutzend Schwimmkörper aus dem Angelbedarf hängen geordnet über dem Fluss. Das Wasser versetzt die neonfarbenen Töggel in Bewegung und sorgt für ein sich ständig änderndes, eindrückliches Bild. Auch Sebastian Herzog und Nico Feer nutzen die Kraft der Thur: Sie haben an der Brücke zwei Velos installiert, deren Räder sich dank des Flusses drehen und die «Thur-Velharmonie» zum Klingen bringen.
Nach dem Rundgang grüsst noch einmal die «Hüterin der Tiefe», sie hat das Publikum bereits willkommen geheissen. Andy Storchenegger hat diese Beschützerin mitten im Fluss installiert. Sie wacht über alles: die Menschen und das Wasser, die Natur und den Ort, die Kunst und die Enten, die unbeeindruckt um sie herumschwimmen.

Digitalisierte Natur

Timur Si-Quin thematisiert die Grenzbereiche zwischen zwei Systemen. Das können Ökosysteme sein, aber auch die beiden Pole Technik und Natur. In der Kunsthalle Winterthur zeigt der Künstler drei digitale Transformationen von Naturbeispielen.

Winterthur — Walter Benjamins Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit werden bald 100 Jahre alt. Und sie sind aktueller denn je in Zeiten der digitalen Bild- und Filmwiedergabe im Hosentaschenformat und der sogenannten Sozialen Medien. Zudem berühren sie Fragen, die nicht nur für das Kunstwerk gelten, sondern neuerdings auch für die Natur: Welchen Einfluss hat die Reproduzierbarkeit auf Naturerlebnisse? Was passiert, wenn digital erzeugte Bildwelten das Original nachahmen? Gibt es Wechselwirkungen? Timur Si-Quin interessiert sich für Übergangsbereiche zwischen dualistischen Konzeptionen. So versteht der 1984 in Berlin geborene Künstler Technik und Zivilisation nicht als Gegenspieler zu Natur, sondern sieht Interaktionen und Durchdringung. Seine Ausstellung in der Kunsthalle Winterthur stellt er unter den Titel «Ecotone Dawn« und bezieht sich damit auf die Zone zwischen zwei Ökosystemen oder Biotopen. Sie sorgt für Austausch und Artenvielfalt, aber auch für Druck auf beiden Seiten, wenn neue Einflüsse wie etwa der Klimawandel dazu kommen. Das Ökoton dient Timur Si-Quin als inhaltliche Klammer für die Ausstellung. Er übersetzt drei Naturbeispiele aus verschiedenen Weltgegenden in Digitalisate: Die Abendstimmung über die saudiarabischen Oase al-´Ula ist als gerendertes Panorama in vier querformatigen Leuchtkästen zu sehen. Ein Baumstrunk an einem Pilgerweg in Thailand wurde eigescannt, als Plastik per 3D-Verfahren ausgedruckt und bemalt. Basierend auf Pflanzen im Bundesstaat New York simulieren Renderings ein Waldstück. Über die statischen Bilder sind bewegte Schattenwürfe projiziert, so dass eine lebendige Stimmung entsteht. Die drei Werke sind technisch perfekte Transformationen. Das gilt auch dort, wo sich der Künstler entscheidet, notwendige Übersetzungshilfen stehen zu lassen. So wurden beim Baumstrunk die Materialstege nicht entfernt, die für die Stabilität beim 3D-Druck notwendig sind. Sie sorgen für Kippmomente in der Natursimulationen. Die perfekte Illusion per Rendering ist möglich, wird aber von Timur Si-Quin gezielt vermieden. Das Original als Referenzobjekt wird nicht abgelöst, sondern ist wie bei der Mona Lisa noch stärker in den Fokus gerückt: Sich eine hochaufgelöste Abbildung aus dem Netz herunterzuladen, gilt nicht als Ersatz für eine Reise oder für den eigenen Augenschein. Im Gegenteil: Nur das selbst aufgenommene Foto vom Original zählt.

→ Kunsthalle Winterthur, bis 17. September
↗ www.kunsthallewinterthur.ch

Andrea Ehrat, Dorian Sari

Schaffhausen — Kontraste prägen das Bild: Weiss kontra Schwarz. Wandarbeiten kontra Plastiken auf einem zentralen Sockel im quadratischen Raum. Gegenständliche Abbilder und Objekte kontra abstrahierte oder abstrakte Formen. Die Arbeiten von Dorian Sari (1989) und Andrea Ehrat (1971) haben wenig Gemeinsamkeiten. Sie in einer Ausstellung miteinander zu kombinieren, ergibt dennoch Sinn. Das Ausstellungsformat «DOPPIO» im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen entlehnt seinen Titel dem doppelten Espresso, und so wie dort das zweifache Koffein enthalten ist, wirkt auch die Zusammenschau der Positionen für beide als Verstärker von Form und Aussage. Andrea Ehrats Arbeitsmaterial ist Gips. Ein wiederkehrendes Element sind abstrahierte, meist einzelne, weibliche Brüste. Sie werden ragen hoch auf oder sind zu einer Dolde verwachsen, werden mit Seilen und Stricken aus Naturmaterialien gebündelt, geknebelt, abgebunden. Auf den menschlichen Körper beziehen sich auch die verlängerten, deformierten Gliedmassen. Hier wie bei einem Haus auf Schlittschuhkufen oder auf einem Knie setzt Ehrat deutliche Referenzen an den Surrealismus. Die in Zürich lebende Künstlerin mit Schaffhauser Wurzeln bringt ihre Gedankenwelt in dreidimensionale Form und liefert dennoch allgemeingültige Kommentare zu den Zwängen und der Fragilität der menschlichen Existenz. Hier findet sich eine Schnittstelle zu Dorian Sari. Der in der Türkei geborene, in Basel und Genf lebende Künstler zeigt beispielsweise eine schwarze Lederjacke, der eine Pistole im Rücken sitzt, oder die zehnteilige Fotoserie «Surrender»: Ein Mann trägt eine Mütze mit einem kleinen Propeller. Letzterer ist in verschiedenen Positionen zu sehen, so als könne er sich drehen, aber der Mann hebt nicht ab. Zu stark ist die Erdhaftung, Leichtigkeit und Fliegen bleiben eine Utopie. Der zu einer monumentalen, schwarzen Fläche erweiterte Oberkörper unterstützt diese Schwere, während sich durch die Reihung das im Titel genannte «Aufgeben» immer aufs Neue wiederholt. Auf noch fatalere Weise der Schwerkraft unterworfen ist der an einem Fuss aufgehängte Mann: In einem Schwarzweiss-Video baumelt er kopfüber endlose sieben Minuten fast unmerklich langsam. Das Individuum ist ausgeliefert. Aber hier wie bei Ehrat wird es in einer starken Ästhetisierung gezeigt. Die Reduktion auf weiss in den Arbeiten der Künstlerin und auf schwarz in jenen des Künstlers, die Entrücktheit trotz der auf das Individuum oder den Körper einwirkende Kräfte sind die Schnittstelle zwischen beiden Werken.

→ Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, bis 17.9.
↗ www.allerheiligen.ch

Lang/Baumann

Teufen — Lang/Baumann arbeiten ortsspezifisch, in grossen oder sogar monumentalen Formaten und nicht selten mit permanenten Installationen. Eine Überblicksschau des Duos L/B alias Sabina Lang (1972) und Daniel Baumann (1967) ist also kaum möglich. Im Zeughaus Teufen funktioniert die Retrospektive trotzdem: Statt der Kunst selbst sind 96 Modelle in Szene gesetzt, die wiederum von Kunst gerahmt werden. Dabei stiehlt keines dem anderen die Show. Die Modelle leben von ihrer Materialität, dem Spiel zwischen Holz, Gips, Kunststoff, Pappe oder Metall, von den Spuren der Zeit und von ihrem Stellvertretercharakter. Hier muss nichts perfekt sein, da dürfen auf den Rückseiten auch Notizen oder Klebstoffreste gezeigt werden. Die eigens gefertigte, goldfarbene Installation «Comfort #21» wiederum bildet Folie und Bühne für die Modelle: Passgenau liegen zu beiden Längsseiten des Ausstellungssaales drei luftgefüllte Schläuche übereinander. Sie lassen Fensternischen und Heizkörperverkleidungen verschwinden und formen eine egalisierende Kulisse, so dass den Modellen der ungestörte Auftritt zukommt. Letztere entstehen seit 33 Jahren. An ihnen lassen sich Werkgruppen ablesen, hier werden Farb- und Formvorlieben deutlich oder der Fokus auf den öffentlichen Raum – die Modelle sind mehr als nur ein Ersatz für die Originale, sie sind geeignete Anschauungs- und Studienobjekte en miniature.


→ Zeughaus Teufen, bis 1.10.
↗ zeughausteufen.ch

Klang Moor Schopfe

Gais — Dreimal hat das Festival bereits stattgefunden. Dreimal hat sich das Hochmoor Gais für jeweils zehn Tage in ein Labor für soundkünstlerische Erkundungen verwandelt. Nun gibt es die vierte Ausgabe – das Festival kann als etabliert gelten. Sein Erfolgsrezept ist nicht zuletzt die einzigartige Kombination: Die Holzscheunen, die Ausserrhodische Moorlandschaft, das Schützenhaus an der Schiessanlage treffen auf internationale Soundexperimente. Oft entstehen diese vor Ort. So hat in diesem Jahr das Schweizer Kollektiv Zaira Oram eine Carte Blanche erhalten und erweitert sein interdisziplinäres ‹Oto Sound Museum› um eine Künstlerresidenz in Gais. Der Spanier Juan José López und der Schweizer Ludwig Berger eröffnen mit ihrer Installation ‹Insect Rhythmic Union› einen Zugang zu den im Moor lebenden Insekten. Das US-amerikanische Kollektiv MSHR entwickelt eine ortsspezifische Installation auf der Basis digitaler Räume, analoger Hardware und Performances. In der Arbeit dieses Duos spielt wie bei vielen der zwei Dutzend Teilnehmenden hochspezialisierte Technik eine wichtige Rolle in der Klangforschung; geerdet wird sie in den Klang Moor Schopfen durch die Natur, das genaue Hinhören auf die Töne vor Ort und durch den Einbezug vorhandener Materialien – auch die Bretterwände eines Schopfes können zum Klingen gebracht werden.

→ Klang Moor Schopfe, bis 10.9.
↗ klangmoorschopfe.ch